Lilia Shevtsova: Sie haben Russland den Kiewer Rus genommen und lassen uns jetzt mit den Moskauern und ihrem Obst zurück
Ein Interview mit Lilia Shevtzova, welche vor wenigen Tagen in der pravda.com.ua veröffentlicht wurde. Sie geht sehr detailiert auf die aktuelle Situiation in Russland und der Ukraine ein.
Die bekannte russische Politologin und Professorin Lilia Shevtsova – Autorin zahlreicher Veröffentlichungen über die Regierungsperioden von Boris Jelzin und Wladimir Putin.
Sie – ein scharfer Kritiker des heutigen politischen Systems in der Russischen Föderation unterstützt seit Beginn des Krieges 2014 die Ukraine. Sie selber wurde in Lemberg geboren.
Emotional und tiefgründig erzählt Lilia Shevtsova wie der Kreml die bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Jahr 2019 für seine Zwecke nutzen wird, was die Autokephalie für die Ukraine bedeutet, welches Land als Nächstes durch die russische Aggression bedroht sein wird, und was die russische Bevölkerung selber von Putin zu erwarten hat.
Die „Krim“ wurde zum Kriterium für den nationalen Patriotismus. Es ist gefährlich, in Russland kein Patriot zu sein
Sie behaupteten, dass nur 16 % der russischen Bevölkerung bereit sei für die Krim seinen Wohlstand aufzugeben. Die Euphorie über die Annexion lässt ebenfalls nach. Was bedeutet das für die Zukunft der Halbinsel?
Ich werde es erläutern. Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums unterstützen nur 16 % der russischen Bevölkerung eine Reduzierung ihrer Einkünfte zur Verbesserung der Entwicklung von Bildung und Gesundheit auf der Krim und Sewastopol.
Diese Zahl spricht Bände. Gleichzeitig unterstützen viele Russen die Wiedervereinigung mit Russland, aber ohne für diese Idee sterben zu wollen. In jedem Fall können wir feststellen, dass unsere Bürger nicht mehr in dem Maße von »Krim nasch« begeistert sind.
Das bedeutet nicht, dass sie bereit sind, die Krim aufzugeben. Nein! Die „Krim“ wurde zum Kriterium für den nationalen Patriotismus. Es ist gefährlich, in Russland kein Patriot zu sein Aber es gibt weniger, die sich für die Krim entscheiden würden.
Alexei Kudrin schätzt, dass die Annexion der Krim Russland in den Jahren 2014-2018 etwa 200 Milliarden US-Dollar Kosten wird. Aber, wenn die Brücke alleine 4-5 Milliarden Dollar kostet, dann wird das russische Abenteuer auf der Krim noch wesentlich teurer als von Kudrin erwartet. Die Menschen müssen diese Zahlen natürlich erst noch verarbeiten.
Was bedeutet das für die Zukunft der Halbinsel? Die Krim wird weiter mit Russland unsere russischen Probleme durchleben.
Die Bewohner der Krim werden in der russischen Armee dienen, Steuern zahlen und darauf hoffen, dass die Einkommen und die Renten steigen. Über alles weitere zu sprechen ist es zu früh.
Für die Besetzung der Krim nutzte Putin das Mittel vom „Anschluss der russischen Welt“, was ihm half seine Unterstützer zu mobilisieren. Besteht heute wieder die Gefahr, dass er erneut versuchen wird Gebiete anderer Länder zu erobern?
Hier muss man eine Sache beachten. Putin wurde zum „Sammler“, als er sich sicher war, dass der Westen untätig bleiben würde.
Der sogenannte „Krim-Naschism“ war die unmittelbare Folge auf die Reaktion des Westens auf den russischen Krieg mit Georgien. Und ebenso eine Folge der Gespräche Putins mit Vertretern des Westens.
Er sah in Ihnen etwas, dass ihn zu der Erkenntnis gelangen lies, der Westen sein willen- und charakterlos, der einfach gekauft und erpresst werden könne.
Heute ist die Situation eine völlig andere. Die liberalen Demokratien sind zu einer Politik der Beschränkung des Kreml übergegangen. Putin selber versucht, zum Dialog mit dem Westen zurückzukehren. Natürlich, ohne seine Positionen aufzugeben. Genau so, wie die Besetzung fremder Landstriche der Logik der aktuellen Politik der russischen Behörden widerspricht.
Die Suche nach einem Ausweg aus der Sackgasse kann jedoch den Verlust der Angemessenheit bedeuten. So bleibt die Möglichkeit von dramatischen Szenarien erhalten.
So schauen wir zum Beispiel mit großer Sorge nach Weißrussland. Dieses Land ist ein Mitglied „Union verbündeter Staat“ und kann zu einem Faktor im politischen Spiel des Kreml werden.
Wann? Wenn sich Putins Amtszeit ihrem Ende nähert.
Gibt es eine Theorie über die Möglichkeit einer vollständigen Invasion Russlands in die Ukraine. Diese wird durch unterschiedliche Aussagen russischer Beamter genährt. Wie bewehrten Sie die Wahrscheinlichkeit eines solchen Szenarios?
Ja, diese Theorie gibt es. Und in Russland gibt es genug Leute, die diese idiotische Rhetorik unterstützen. Im Moment widerspricht diese Bedrohung den Interessen des Kreml. Die Führung hat noch eine Reihe von Möglichkeiten ohne dieses Selbstmord-Szenario.
Alle hängt letztendlich von der Angemessenheit der Entscheidungen der regierenden Parteien und ihrem Verständnis für die Situation ab. Garantieren kann das allerdings niemand.
Wie sind in diesem Zusammenhang die Ereignisse vom 25. November 2018 in der Meerenge von Kertsch einzuordnen, als Spezialeinheiten der Russischen Föderation 3 ukrainische Schiffe beschlagnahmt haben? Welche Reaktion der Ukraine könnte den Kreml provozieren?
Wir alle verstehen, das Russland den zweiseitigen Vertrag von 2003 aufgekündigt hat, nach welchem Russland – und die Ukraine – das Asowsche Meer als Binnen-Meer betrachten. Für Russland ist es nicht das erste Mal, das man einen internationalen Vertrag in den Mülleimer geworfen hat.
In der russischen Gemeinschaft beschäftigt uns zur Zeit folgende Frage: Warum musste man die Lage vor dem bevorstehenden G20 Gipfel in Argentinien, vor dem Treffen zwischen Putin und Trump, verschärfen? Das alles passt nicht in die Logik, das Putin eine Deeskalation der Lage mit dem Westen anstrebt.
Auch die populäre Antwort, dass Putin seine fallenden Zustimmungswerte aufbessern muss, überzeugt mich nicht. Eine „Verbesserung“ hätte man auch ein anders Mal, zu einem späteren Zeitpunkt, erreichen können.
Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass dem Kreml oft keine Zeit mehr bleibt, die Reaktionen und ihre Auswirkungen seiner kurzfristigen Entscheidungen zu beurteilen. Wenn sie sich für etwas Vertrautes entscheiden – machen sie Nägel mit Köpfen! Vielleicht wurde das Recht, derartige Entscheidungen zu treffen, ja schon den Sicherheitskräften zugestanden.
Lawrow hatte erklärt, dass die Sanktionen schon lange niemanden mehr beunruhigen. Welche Möglichkeiten bleiben, auf Russland Druck auszuüben?
Lawrow hat Recht und Unrecht. Die Sanktionen betreffen nur jenen Teil der russischen politischen Klasse, deren Interessen mit der Offenheit des Westens verbunden sind. Aber es gibt auch ein Teil der herrschenden Elite, dem das schon egal ist. Und je Schlechter. Desto Besser. Spucken!
Wenn man Lawrow sein Verhalten beurteilt, gehört in das zweite Segment. Als ob die Sanktionen diese Personen nicht interessieren. Sie sind schon bereit in einer Lebra-Kolonie zu leben. Oder sie glauben immer noch, dass es niemand wagen würde, Russland zu isolieren. Immerhin kann man drohen und auf dem Roten Knopf drücken.
„In einer Situation der Isolation wird Russland komplexer und daher gefährlicher“.
Sie haben die Sanktionen gegen Russland als „erstaunlich wirksam“ bezeichnet. Können Sie uns das näher erläutern?
Überzeugen Sie sich selbst. Hier die Sanktionen der westlichen Staaten auf allen Ebenen gegen Russland.
Erstens hat man die Möglichkeiten der Kreditaufnahme im Westen für Russland empfindlich eingeschränkt. Es stellte sich heraus, dass China nicht herangezogen werden kann.
Zweitens wird der Zugang zu westlichen Technologien für den Rohstoffsektor und des militärisch-industriellen Komplexes blockiert.
Drittens treffen die Sanktionen direkt Personen im Umfeld Putins.
Viertens führten die Sanktionen zu einem geringeren Lebensstandard der städtischen Mittelschicht.
Bloomberg schätzt das Volumen der russischen Wirtschaft aufgrund der Sanktionen um 6% Prozent geringer, als es ohne sein könnte.
Im November werden neue amerikanische Sanktionen erwartet. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Sanktionen dann 70 % der Wirtschaft und 40 % der arbeitenden Menschen betreffen werden. Es geht dabei um den Maschinenbau, Erdölprodukte und verschiedene Arten von Geräten.
Dieser Schlag wird wirklich sitzen. Natürlich nur, wenn Trump dieses Sanktionspaket auch unterschreibt.
Wie haben die Sanktionen die einfachen Bürger beeinflusst und ihre Ansichten geändert?
Nach den Umfrage-Ergebnissen des „Lewada-Institutes“ verneinten 33 % der Befragten, dass die westlichen Sanktionen gegen Russland zu Problemen für sie oder ihre Familie geführt haben. Ungefähr 45 % der Befragten gaben an, dass keine ernsthaften Probleme bestehen.
Dagegen erwarten 18 % der Befragten Probleme für sich aufgrund der westlichen Sanktionen. Viele Leute sehen noch nicht den Zusammenhang zwischen der Verschlechterung ihrer materiellen Lage und den westlichen Sanktionen.
Obwohl, im Allgemeinen, die Isolation Russlands und die Konfrontation mit dem Westen beginnt, sie zu beunruhigen. So wollen heute etwa 68% der Russen die Beziehungen zum Westen normalisieren und nur 21% wollen eine Konfrontation.
Und je schrecklicher unser Leben in Zukunft wird, desto eher werden die Menschen den Zusammenhang zwischen den westlichen Beschränkungen und ihrem Leben verstehen.
Und wie hat sich Russland an die Sanktionen angepasst?
Ehrlich gesagt, habe ich nicht erwartet, dass sich Russland so schnell an das Leben unter Sanktionen gewöhnt. Ich dachte, dass der Schmerz schärfer wird, besonders für die Stadtbewohner. Aber es hat sich herausgestellt, dass sich das Land und die Bevölkerung der neuen Realität gestellt haben.
Dieser Anpassungsprozess ist von besonderem Interesse. Erstens ermöglicht der Westen Russland, sich anzupassen, und hat kein Interesse am Zusammenbruch der russischen Wirtschaft. Schauen Sie, wie geduldig die westlichen Behörden dem Oligarchen Deripaska erlauben, die restriktiven Maßnahmen gegen ihn zu lindern.
Im westlichen Sanktionsregime existieren viele Schlupflöcher, die man ausnutzen kann. So wie Russland die Einschränkungen umgangen hat und die Siemens-Turbinen für die Krim kaufte. Und so gibt es viele andere Dinge.
Zweitens zwingen die Sanktionen Russland dazu, zu den eigenen Stärken und zur Eigenständigkeit zurückzukehren. Das ist seine Art der De-Modernisierung. Aber das kann man sehr lange so machen.
Eine wichtige Rolle spielen auch die russischen Emigranten, die im Westen nicht angekommen ist und nach Russland zurückkehrt, aber überhaupt nicht versucht, sich einzubringen.
Die Hoffnung, dass sich die unzufriedenen Eliten unter Putin, die unter den Sanktionen leidet, sich auflehnen wird, hat leider keine realistische Grundlage.
Sondern genau im Gegenteil. Ich spüre, dass die aus dem Westen zurückzukehrenden Migranten bereit sind, in Russland einen härteren und anti-westlichen Kurs zu unterstützen. Was weiter geschieht, werden wir sehen.
Aber es ist klar, dass das System keine geringe Trägheit besitzt.
Und Übrigens. Man muss sich darüber im klaren sein, dass die Gefahr darin besteht, dass die De-Modernisierung und die Isolierung Russland komplexer wird. Und deshalb wird es gefährlich.
„Die Ukraine ist der Feind“ trifft den Nerv der Mehrheit der russischen Bevölkerung.
Die Suche nach einem „Feind“, gegen den sich die Menschen verbünden, ist der sicherste Weg, von inneren Problemen abzulenken. Nach dem Maidan wurden in den vergangenen fünf Jahren die mystischen Banderowzy zu solch einem „Feind“. Erhält Putin noch Wahl-Dividenden aus dem Krieg mit der Ukraine oder sucht er schon nach neuen Feinden?
Ja, die russische Propaganda präsentiert Russland schon seit vier Jahren die Ukrainer als „Feind“. Bisher konzentrieren sich die politischen Programme in der russischen Zombischke auf genau diesen „Feind“.
Amerika und Europa kommen als Träger des „Bösen“ auch vor. Aber das ist nebensächlich. Der Kreml will die Beziehungen zum Westen nicht zu sehr verschärfen.
Es stellt sich heraus, dass die Ukraine das sicherste Modell des Teufels ist. Umso mehr, dass sich die Industrie auf den Kampf mit „Schwätzern“ und „Dunkelmännern“ einstellt, welche die Regierung vorbereitet.
Aber die Sache ist die, dass die Nudel (Anm. TB: Die alte Leier) nicht mehr funktioniert.
Heute haben 33 % der Russen ein gutes Verhältnis zur Ukraine, aber 55 % ein schlechtes. Das ist zweifellos das Ergebnis eines Machtvergehens ( „Wir werden aufgegeben! „), dass durch unsere Propaganda angeheizt wird.
Aber zu selben Zeit glauben nur 16% der Russen, das Russland und die Ukraine ein gemeinsamer Staat sein sollten. Während 45 % der Befragten glauben, dass Russland und die Ukraine befreundete Staaten sein sollten.
Ich sehe selber, dass der ewige Refrain „Ukraine ist der Feind“ auf die zunehmende Irritation der russischen Bevölkerung trifft. Folglich muss sich der Kreml einen neuen Feind suchen, oder einen sehr guten Grund haben um das ukrainische Thema in der Propaganda zu halten.
Der Kreml nutzt schon ein breites Spektrum an Einflussmöglichkeiten auf die Ukraine: so wie etwas Kampfhandlungen, die Propaganda, die Blockade des Asowschen Meeres, Sanktionen der Gaskonflikt und vieles mehr. Welche Asse könnte Putin noch im Ärmel haben?
In denke, dass der Kreml noch zwei Asse im Ärmel hat. Wenn wir von der Ukraine sprechen.
Erstens die Schwierigkeiten bei den ukrainischen Reformen, die Spaltung der ukrainischen Eliten und die mögliche Stärkung der pro-russischen Opposition.
Zweitens die Müdigkeit und wachsende Gleichgültigkeit des Westens bezüglich der ukrainischen Probleme. Vor kurzem schrieb einer besten Reporter des „Spiegel“ Christian Neef enttäuscht über den vergessenen Krieg im Donbas, welchen Europa versucht zu vergessen.
Der Kreml geht davon aus, dass die liberalen Demokratien die Ukraine satthaben und zu ihrem Pragmatismus zurückkehren werden. Um so mehr, dass es dort einflussreiche Kräfte gibt, die zum Tagesgeschäft zurückkehren wollen
In Wirtschaft und Politik findet man Realisten wie Schröder, Sarkozy oder Blair, welcher immer bereit sein werden durch die Freundschaft zu nicht-liberalen Regierungen Geld zu verdienen.
Die Epoche der Globalisierung hat eine ganze Generation von „Realisten“ aus verschiedenen Schichten hervorgebracht – von Politikern bis zu Intellektuellen – welche glauben, dass die Epoche der Werte vorbei ist. Wir müssen zum Pragmatismus übergehen.
Das ist sehr komfortabel für die Generation der Autokratie. Genau diese formierten im Westen eine mächtige Maschinerie von Lobbyisten um die Interessen der Kleptokratie zu sichern. Und so lange diese Maschinerie nicht zerstört wird.
In Europa herrscht jetzt auch die Zeitlosigkeit. Angela Merkel ist dabei sich zurückzuziehen. Aber genau sie hat die europäische Geschlossenheit zementiert.
Macron seine Umfragewerte sinken. Großbritannien kann sich nicht mit seinem eigenen Rückzug aus der EU befassen. Trump ist dabei, die transatlantische Allianz und die großen Errungenschaften des Westens zu zerstören.
Und da haben wir einen luxuriösen Golfplatz für die Spiele des Kreml.
Wie wird der Kreml ihrer Meinung nach die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2019 in der Ukraine beeinflussen?
Zu den Technologien kann ich nicht viel sagen. Man braucht hier eine besondere Qualität der Verdorbenheit, um vorherzusehen, was die Technologen des Kreml vorhaben könnten.
Aber natürlich wird der Kreml versuchen, seine Anhänger in der Ukraine zu unterstützen. Und diese gibt es. Nicht wahr?
Vor Kurzem habe ich eine Diskussion mit ihrem Medwedtschuk im russischen Fernsehen angesehen. Er präsentierte wortgewandt und überzeugend seine Variante der Strategie des Kreml. Für das normale russische Ohr sehr überzeugend! Bei Euch gibt es bestimmt noch weitere Medvedchuks?
Bei uns hört man immer wieder das Argument, dass der mit Tymoshenko als Präsident leichter eine gemeinsame Sprache finden könnte. Aber das ist Unsinn.
Welcher ukrainische Präsident kann zu einem Zeitpunkt, wo die nationale Identität gefestigt wird, im Donbass viele Opfer zu beklagen sind, über die Bereitschaft sprechen auf den Kreml zuzugehen?! Oder habe ich nicht Recht?
Der Kreml hat keine Chance die ukrainische Gesellschaft zu manipulieren. Aber er hat die Möglichkeit, die Streitigkeiten in der ukrainischen Elite auszunutzen.
Nicht mit dem Ziel, zum Vor-Maidan Zustand zurückzukehren. Aber mit dem Hintergedanken, den ukrainischen Prozess zu stören. Auch um die Frustration der Ukrainer gegenüber dem Westen zu stärken. „Sehen Sie! Das ist doch so ein unechtes Gebilde! Und sie haben damit zu tun!“ – spricht die russische Elite im Westen.
Der Kreml hatte schon immer ein Händchen, um Zwietracht zu sähen. So wie in ihrer Politik gegen die russische Opposition, so auch auf der Weltbühne.
„Sie haben Russland den Kiewer Rus genommen und lassen uns jetzt mit den Moskauern und ihrem Obst zurück“
Sie haben bisher nicht darüber gesprochen, das die Turbulenzen der russischen Politik auf die eine oder andere Art Einfluss auf seine Nachbarn haben werden, besonders auf die Ukraine. Und wie beeinflusst die Ukraine die russische Politik und die weitere russische Entwicklung?
Die Rolle der Ukraine und ihre Auswirkungen auf die russische Veranstaltungen ist noch nicht ganz klar. Weder für Russland noch für den Westen.
Die Ukraine wird oft als geopolitischer Faktor wahrgenommen, der das Kräfteverhältnis der Welt veränderte und den Kampf zwischen Russland und dem Westen provozierte. Das ist eine sehr einfache Interpretation der Wirklichkeit.
Ukraine mit seinem Kampf für Eigenstaatlichkeit und die richtige Wahl der Zivilisation ist ein Wendepunkt in der modernen Geschichte geworden.
Warum? Zum einen, weil es nicht nur zu einer Veränderung des internationalen Kräfteverhältnisses führte, sondern auch zur Spaltung Europas – in eine liberale Demokratie und eine anti-westliche in Form von Russland.
Darüber hinaus hat ausgerechnet die Ukraine den Westen gezwungen, zu seinen Normen und Prinzipien zurückzukehren. Bisher aber nicht sehr erfolgreich.
Letztendlich hat die Flucht der Ukraine aus der russischen Umklammerung zu einem Abdriften Russlands in die graue Zone geführt, zu einer Ambivalenz, in der Russland versucht, beide Konzepte zu verbinden.
Aber diese Epoche ist vorbei. Der Kreml hat in seiner Einzigartigkeit Russland in eine Zeit des Nebels zurückgeworfen. Die „Krim“ hat die Integration Russlands in Europa beendet. Jedenfalls für die Zeit von Putins Präsidentschaft.
Was bedeutet die Bildung der ukrainischen Identität konkret für Russland?
Sehen Sie. Die Herausbildung des eigene ukrainischen „ich“ und der eigenen Geschichte bedeutet, dass die Ukraine den europäischen Teil fes historischen Erbes aus Russland herausreißt.
„Sie haben Russland den Kiewer Rus genommen und lassen uns jetzt mit den Moskauern und ihrem Obst zurück“ Eine Abspaltung der Ukraine ist ein Schlag für die Theorie der „slawischen Brudervölker“.
Eine Folge dieses Schlages gegen die „Brüderlichkeit“ wird vermutlich die Flucht Weißrusslands sein. Der Präsident Lukaschenko bereitet Weißrussland darauf vor. Vielleicht nicht ganz bewusst.
Das Ausbrechen der Ukraine und das Scheitern der Versuche des Kremls, die Ukraine entlang der Linie Kharkov-Odessa zu spalten, bedeuten nicht nur den Zusammenbruch des russischen Weltprojekts, sondern auch den Eurasianismus. Was ist den Eurasien ohne die Ukraine, mit einer zweifelhaften Loyalität Lukaschenkos und dem ständigen Beobachter aller Seiten Nasarbajew?
Das ist die Ironie der Geschichte: Die pro-europäische Orientierung der Ukraine versetzte die russische Elite mit einem Ruck zurück in die Vergangenheit und zerstörte alle Versuche, zivilisiert zu sein.
Nun besteht die offizielle Interpretation der russischen Identität darin, sich von allem Ukrainischen zu trennen.
Und genau so kommt es! Bis vor Kurzem war die russische Identität eine undurchdringliche Wolke. Es ist eine Sammlung inkompatibler Elementen – moderne und antiquierte.
Unter dem Einfluss des Kampfes gegen die Ukraine wird die offizielle Identität heute immer klarer. Wir erkennen unter der fallenden Maske ein unglaubliches Grinsen.
Was bedeute in diesem Zusammenhang die Eigenständigkeit der ukrainischen orthodoxen Kirche für den Kreml?
Die Autokephalie der ukrainischen Kirche zerstört nicht einfach die Vorherrschaft der russischen orthodoxen Kirche, sondern untergräbt ihre soziale und finanzielle Basis.
Das ist ein Schlag gegen den Staat, deren Säule die orthodoxe Kirche ist.
Und wie betrachten die russische intellektuelle Minderheit und die Opposition die Ukraine?
Wir sprachen bisher über die offiziellen russischen Reaktionen auf die Ukraine. Aber es gibt auch das Narrativ der russischen Opposition. Aber diese formiert sich grade erst.
Wir sind immer noch auf uns und unsere Probleme fixiert. Aber die denkende Minderheit in Russland beobachtet den ukrainischen Prozess. Wir sehen in der Ukraine die Probleme, denen wir uns auch stellen müssen. Wenn wir nur endlich anfangen würden.
Wir sehen, dass wir uns geirrt haben, als wir dachten, wir würden zuerst aus der Sackgasse herauskommen. Wir haben uns geirrt, als wir glaubt, das wir mit den slawischen Republiken eine gemeinsame Zukunft haben.
Heute ist offensichtlich, dass die Ukrainer und die Weißrussen als erste davon ziehen. Russland ist sehr groß, träge und starke blockierende Faktoren.
Aber diejenigen, die den Prozess beobachten, verstehen, dass die Ukraine einen neuen Weg des Übergangs ausprobiert. Es geht über frischen Schnee, über unbekannte Wege.
Das Modell Osteuropas und des Baltikums funktioniert nicht in der Ukraine und in Russland. Das Abschütteln des Post-Kommunismus erweist sich als schwieriger als die Trennung vom Kommunismus selber. Es ist eine andere Realität.
Die Ukraine muss möglicherweise versuchen einen Rechtsstaat aufzubauen, ohne in die Europäische Union aufgenommen zu werden.
Im liberalen Segment gibt es noch eine Reihe von Leuten, die die Ukrainer beraten und bevormunden wollen. Aber diese werden immer weniger. Wir beginnen langsam zu verstehen, vor welchen enormen Problemen die ukrainische Gesellschaft steht und wie begrenzt unsere Vorstellung ist.
In Moskau versteht langsam, dass die besetzten Gebiete im Osten der Ukraine zur Belastung werden.
Seit Beginn des Krieges im Donbass hast sich Politik des Kreml nicht verändert. Anfangs sprach man von einer gemeinsamen „Russischen Welt“, später dann von einer Föderation. Heute sind die besetzten Gebiete im Osten der Ukraine ein Teil des Landes, welcher praktisch vom Kreml kontrolliert wird und zu einem Feld geworden ist, auf dem Kompromisse zwischen Russland und dem Westen gefunden werden können. Wie wird die Politik Putins in Bezug auf die besetzten Gebiete aussehen und was ist sein eigentliches Ziel?
Tatsächlich hat sich die Taktik des Kreml in Bezug auf die Ukraine im Ganzen und und den Donbass im Speziellen hat sich verändert. Der Kreml bewertet seine Ambitionen neu, welche im Ergebnis des konsequenten Widerstandes der Ukrainer und des Westens kontinuierlich zurückgehen.
In der Tat zögerte der Westen in der Person von Berlin und Paris, die Minsker Vereinbarungen zu interpretieren. Und fast hatte man sich dazu hinreißen lassen, den Kreml zu unterstützen. Heute hat der Westen die ukrainische Interpretation übernommen.
Von den Träumen der „Russischen Welt“ und der ukrainischen „Föderation“ ging der Kreml zur Idee des „Faulen Anhängsel“ im ukrainischen Körper über. Und das kurz vor der Forderung, die besetzten Gebiete in den ukrainischen Staat aufzunehmen.
Und immer wieder wiederholt sich die Forderung an Kiew den Dialog mit der „Regierung“ der Separatisten aufzunehmen.
Aber die Strategie des Kreml bleibt dieselbe, die Ukraine wieder zurück in die graue Zone zu drücken. Dies ist in erster Linie das Ziel von Putin selbst, für den die Ukraine zum Gegenstand seines persönlichen Interesses geworden ist.
Er hat sehr viel in die Ukraine investiert und wird das nicht aufgeben.
Aber welche taktischen Entscheidungen sind möglich, um dieses Zeil zu erreichen? Besonders dann, wenn die russischen Eliten müde sind vom Krieg mit der Ukraine und glauben, dass sie einen hohen Preis für Putin sein Projekt zahlen müssen?
Bisher sehen wir nur eine grandiose Idee des Kreml, Friedenstruppen in einem begrenzten Format. Mag sein, das noch eine andere Idee auftaucht, aber immer unter Aufgabe der bisherigen Strategie.
In Moskau versteht langsam, dass die besetzten Gebiete im Osten der Ukraine zur Belastung werden. Und sie werden versuchen, einen Weg zu finden ihre Kreationen zu kontrollieren. Sie versuchen die Marionetten „Macht“ von offensichtlichen Straftätern bereinigen.
Jeder versteht, dass diese eine Belastung sind. Aber sie muss getragen werden, weil Putin sich nicht zurückziehen kann.
Bisher wartet der Kreml die ukrainischen Wahlen ab, und hofft auf einen neuen verständnisvollen Präsidenten der Ukraine zu treffen. Dies bedeutet nicht, dass plötzlich etwas explodiert.
Im Gegensatz zu Transnistrien ist die Lage im Donbass nur eine leicht eingefrorenen. Und das Blutvergießen des Kreml stört hier niemanden.
Aber bleibt die Ukraine ein Verhandlungsobjekt zwischen Moskau und dem Westen?
Ja. Und Nein. Ich bin der Überzeugung, das der Kreml verstanden hat, dass es gegenwärtig unmöglich ist, mit dem Westen eine Einigung über die Ukraine zu erzielen.
Aus diesem Grund sucht der Kreml andere Varianten für den „Großen Deal“ mit den führenden westlichen Spielern. Aber nicht unbedingt mit allen. Aber mit einigen. In Fragen der Energie, der Terrorismus-Bekämpfung, des Wettrüstens, dem Konflikt in Syrien.
Die allerneuste Idee der Putin-Gang ist, die Verhandlungen mit Japan über die Kurilen-Inseln wieder aufzunehmen. Im weiteren Verlaufe der Verhandlungen kann es bei der Ukraine-Frage zu Problemen kommen, in welchen Moskau versuchen könnte, Zugeständnisse zu erreichen. Kurz gesagt, die Methode der „Verknüpfung“.
Mag sein, dass es bei den vielschichtigen Verhandlungen mit Obama bereits erste Versuche gegeben hat.
Heute ist der „Krimnaschism“ erschöpft. Die Regierung weiß nicht, wie sie das Volk erneut mobilisieren kann.
Schon im Jahr 2000 hatten Sie vorausgesagt, dass die russische Elite mit Eitelkeiten beschäftigen wird, wenn Putin sein Russland „Alle für Immer“ schaffen wird. Es sind 18 Jahre vergangen. Wie hat sich die Elite verändert und gibt es Voraussetzungen, dass alles „Für Immer“ ist?
Sie haben bestimmt auf YouTube die Debatten auf HTB angesehen, die Jewgeni Kiselev in der Nacht nach den Wahlen 2000 und Putins Sieg geführt hat. Ja, ich hatte die Möglichkeit, alles zu erzählen, was ich über die russischen Eliten denke.
Unsere politische Klasse, einschließlich vieler Liberaler, hat den Übergang der Macht von Jelzin an seinen Nachfolger unterstützt. Der genetische Kode der Servilität hat funktioniert.
Heute demonstriert die russische Elite das Gesetz der „Vervielfältigung der Qualität“. Kurz gesagt, er begräbt alle Hoffnungen, sich den Behörden zu widersetzen. Die Gewohnheit unter dem Joch eines Herren zu leben ist auch eine Art zu leben.
Darüber hinaus spielen Systemliberale eine wichtigere Rolle für das Überleben der Autokratie als die Siloviki!
Tschekisten beschlagnahmen Eigentum, untergraben die Wirtschaft und stürzen Regierungen ins Chaos. Und die Liberalen in der Regierung folgen ihnen mit einem Lappen, reinigen und versuchen, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Wow, was ein Paradox!
Wenn es schon keine Hoffnung für die Eliten gibt, gibt es Hoffnung für die Gesellschaft?
Russland dreht das Axiom, wonach die Elite ein Spiegel der Gesellschaft ist. Unsere Elite ist viel schlimmer, zynischer als die Gesellschaft! Das russische Volk gibt Anlass zum Optimismus.
Sogar in den für das Land schwierigen 90-iger Jahren hat die russische Bevölkerung die Reformen und Referendum Jelzins unterstützt. Ja, das Volk gibt Putin ein hohes Rating – 66 % der Befragten geben an, dass sie die Aktivitäten des Präsidenten unterstützen. Sondern eher aus Mangel an Alternativen und Angst, dass es zu einem Zusammenbruch des Staates kommen könnte.
Im russischen Bewusstsein verkörpert der Präsident die Staatlichkeit. Der Rückgang des Ratings für Putin um 15 % in den vergangenen Monaten ist schon ein Anzeichen von Müdigkeit der Leute von ein und derselben Führungspersönlichkeit. Der Rest der Unterstützung kann auch nur vorgetäuscht werden.
In Russland gab es schon immer die Tradition, der Regierung gegenüber loyal zu sein und sie gleichzeitig zu hassen.
Die Russen sind bereit den Wandel zu unterstützen, mehr als 70 % der Befragten wollen dies. Aber nur, wenn die Veränderungen von oben kommen. Bisher sind sie nicht bereit, dafür zu kämpfen, wie die Ukrainer. Das ist der große Unterschied zwischen beiden Nationen.
Sie sagen oft, das man den Niedergang des russischen Systems nur schwer übersehen kann, wenn man es sich heute anschaut. Erzählen sie uns, was genau gemeint ist?
Der Zusammenbruch des russischen Systems, das heißt, der staatlichen Diktatur begann mit dem Tod Stalins. Seit dem versucht jeder Herrscher im Kreml eine Möglichkeit zu finden, den Motor wieder zu starten. Manchmal schien es, als ob es gelingen würde. Aber bald wird das System wieder seine Geschwindigkeit verlieren.
Die Autokratie kann keinen technologischen Durchbruch bieten. Das Wohlergehen der Gesellschaft kann nicht garantiert werden. Stabilität ohne den Einsatz von Gewalt kann nicht aufrechterhalten werden. Er hat keine strategische Zielsetzung, keine Ideologie.
Die treibende Kraft des Fortschritts ist der Wettbewerb, die Fähigkeit zur Innovation und persönliches Vertrauen. Und wo steht Russland?
Ein Versuch des Systems, sich selbst zu reproduzieren, indem es seine eigenen Gliedmaßen reproduziert.
Nehmen wir zum Beispiel den „Krim-Gambit“. Dieser erlaubt dem Kreml seinen kaiserlichen Patriotismus wieder zu beleben. Die „Krim“ stärkte Putins macht und zerstörte die Hoffnungen auf Veränderungen, die in den Jahren 2011-2012 entstanden waren.
Mit einem Schlag trieb der Kreml die oppositionellen Liberalen in das Ghetto und neutralisierte den russischen Nationalismus, der ebenfalls oppositionell wurde.
Und wie ist alles zu Ende gegangen? Mit der Zerstörung des Überlebensmodells durch den Dreiklang – „Mit dem Westen sein – Im Westen sein – gegen den Westen sein“. Dieser Dreiklang erlaubte es, sowohl die liberalen Demokratien zu zügeln als auch sie zu nutzen, um die Autokratie zu stärken. Sehr einfallsreich!
Heute ist der „Krimnaschism“ erschöpft. Und die Regierung hat keine Ahnung, wie sie die Massen erneut mobilisieren und von ihren Problemen ablenken kann.
Der Rückgang bedeutet noch keinen Zerfall. Welche Szenarien sehen Sie für Russland?
Sie haben Recht. – Der Rückgang bedeutet noch keinen Zerfall. Der Rückgang ist Fäulnis, Abbau, Zersetzung des Materials. Sozial, staatlich und menschlich.
Die Fäulnis kann ewig andauern. Nichts ist hoffnungsloser. Das ist das Stück, welches wir spielen.
In Russland gibt es heute eine Verschlechterung der staatlichen Strukturen, der herrschenden Elite und der Öffentlichkeitsarbeit. Die Vertikale des Präsidenten befindet sich ebenfalls in einem Zustand der Degradierung.
Der Präsident kann seine Entscheidungen nicht mehr treffen. Seine „Vertikale“ arbeitet für seine eigenen Interessen. Und Putin, ihr Herr, wurde ihre Geisel. Seine hektischen Aufräumarbeiten und der Ersatz alter Loyalisten durch neue sind eine Bestätigung für die Ungesundheit der Macht.
Das Ersetzen von altem Personal durch Gardisten, Putins Wachen, ist bereits eine Machtdiagnose. Und was können wir von den Wachen als Gouverneure erwarten? Oder die Minister? Ich denke, dass Putin selbst nicht viel von ihnen erwartet.
Aber wie wird der Zerfallsprozess enden? Schwer zu sagen. Das ist die schlechteste Variante im Umfeld der Veränderungen.
Gibt es ein weiteres Szenario?
Ja, natürlich. Wir können den Zusammenbruch der Macht unter Druck von unten nicht ausschließen.
Was ist ein Erdrutsch? Die Regierung funktioniert nicht mehr und ihre repressiven Instrumente hören auf, ihr zu gehorchen.
Richtig, zur Zeit ist ein Proteststurm eher unwahrscheinlich. Die Menschen schluckten die Rentenreform, die für die soziale Machtbasis ein Schlag war. Der Kreml hat ein riesiges Budget in Form eines Haushaltsüberschusses.
Die Regierung versucht weiterhin, auf alle möglichen Arten Geld aus der Bevölkerung zu pressen, angefangen bei Steuern bis zu Verbrauchssteuern auf alles, was sie verbrauchen. Der Staatshaushalt umfasst 27 Trillionen Rubel. Es gibt keinen Grund zur Sorge. Im Falle eines Aufbegehrens können Sie einen Teil des Geldes auf die Bestechung der Bevölkerung setzen.
Der Kreml kann sich aber nicht in vollständiger Sicherheit wähnen. Daher stellt die Regierung schnelle Eingreiftruppen auf. Für alle Fälle.
Die Staatsgarde, die Prätorianer des Kreml, besteht aus 340 tausende Soldaten. Sie ist mit den modernsten Waffen für die Niederschlagung von Protesten ausgerüstet, zum Beispiel mit dem Scharfschützen Gewehr „Totschnost“ (Anm. TB: Orsis T-5000) und ein System zur akustischen Abwehr „Schepot“ (Abm. TB: Ein Tongenerator, der in an den Schildern der Polizei montiert wird und niederfrequente Schwingungen erzeugt).
Der Schutz der Regierung ist wichtiger, als der Schutz des Landes. Die Staatsgarde ist wichtiger als die Armee.
Aber ein leises Raunen ging durch das Land. Selbst die herrschende Klasse wundert sich. Denn wenn Veränderungen von oben nicht möglich sind, fordern die Menschen sie von unten. Und wenn die offiziellen Artikulationskanäle verstopft sind, bleibt ein Kanal übrig – die Straße.
Aber wann beginnt in Russland die „Strasse“? Das weiß niemand so genau. Aber alle haben Angst. Sogar die Opposition. Ist ist die russische Strasse und die aufstrebenden Personen schwer zu kontrollieren?
Ich wiederhole es: Das System und die Behörden haben eine Reihe von Möglichkeiten. Und ein Austausch der Führung und des Systems kann sich sehr schnell als Ausweitung der Autokephalie erweisen. Nur mit anderem Personal.
Aber das Land ist nicht ohne Hoffnung. Es hat noch Atem.
In einer Ihrer Veröffentlichungen haben Sie die „Nationale Industrie“ der Russischen Föderation als großen „Bluff“ bezeichnet. Bluffen tun nach Ihren Worten die Regierung, die Experten, die Medien und der Präsident selber. Welche Rolle spielt die russische Gesellschaft in diesem Spiel?
Ja, der „Bluff“ wurde für unser System überlebenswichtig und zum Inhalt der Politik. Wenn man übertriebene Ambitionen hat, aber die Ressourcen fehlen, gibt es keine andere Möglichkeit, als eine flexible Politik mit einer Reihe von Bluffs zu machen. Imitieren, lügen, vortäuschen, erpressen.
Es geht nicht einmal um Machiavellismus, was Raffinesse bedeutet. Wir spielen in einer primitiven Bluff, der welche Absichten sich nicht verstecken. Aber der Bluff funktioniert.
Warum? Die Verantwortlichen in anderen Ländern wissen nicht, wie sie einer Atom-Macht entgegentreten sollen, weil sie nicht wissen, was eine Minute später passiert. Innerhalb des Landes hat sich die Bevölkerung auch angepasst, um in einer Situation des Bluffens und einer ständigen Änderung der Regeln zu leben.
Die Bevölkerung blufft selbst! Der Kreml sagt es, wir glauben ihm. Aber tatsächlich behalten die Menschen eine Figur in der Tasche.
Dies ist eine Art russischer Post-Modernismus. Die Grenzen zwischen den Prinzipien und der Bereitschaft, etwas zu imitieren verschwinden.
Das ist die Schwäche des Systems und ein Zeichen seiner Instabilität. Aber auch für ihre Macht, denn es ist nicht klar, was sie beim nächsten Mal machen werden.
Es ist nicht klar, ob der Kreml immer noch mit sein beliebtes Spiel spielen wird: „Eskalieren, um sich dann zurückzuziehen“. Putin greift oft auf dieses Spiel zurück. Und dann zieht er sich plötzlich zurück, als hätte er Angst vor der Möglichkeit, was etwas passieren könnte.
„Russisches Roulette“ mit Kernwaffen. das ist ein gefährliches und selbstmörderisches Spiel. Es führt oft zu einem taktischen Sieg. Aber auch zu strategischen Verlusten.
Die Gesellschaft? Die Gesellschaft hat gelernt zu überleben und mit den Behörden verstecken zu spielen. Aber sie sind schon müde von diesem Regime. Und man verschweigt schon gar nicht mehr die Tatsache, dass man die das „Oben“ satt hat. Und so haben die Menschen die Macht der Kandidaten während der Wahlen in vier Regionen begrenzt. Interessanterweise haben die Behörden die bisher ruhigen Regionen gezeigt.
In der Ukraine diskutiert man schon seit langem über die Bereitschaft der Russen, sich gegen das herrschende Regime aufzulehnen. Und was sagen die Umfragen unter den Bürgern der Russischen Föderation und ihre Stimmungen?
Darüber streiten wir uns jeden Tag. Kommen wir auf das Lewada-Zentrum zurück. Im Juli 2018 (zum ersten Mal seit 2009) überschritt die Wahrscheinlichkeit von Massenprotesten mit wirtschaftlichen Anforderungen in Russland in der Wahrnehmung der Bevölkerung die 40-Prozent-Marke.
Die Bereitschaft zur Teilnahme an solchen Protesten beträgt 28%, was den höchsten Wert in der „postkriminellen“ Zeit darstellt. Ein Drittel der Russen glaubte im Juli 2018, dass Proteste mit politischen Forderungen möglich seien. Fast jeder vierte Russe ist bereit, sich an solchen Protesten zu beteiligen.
Sie fragen sich, wo diese Leute auf der Straße sind?
Bei uns finden jeden Tag hunderte solche Aktionen statt. Aber es sind noch zu wenige und jede Aktion hat eine begrenzte Agenda. Es kommen nur die betrogenen Leute. Sie protestieren gegen Gebäude und Deponien. Es kommen auch die Gesetzeshüter zum Vorschein.
Bisher gibt es keine Idee, wie man die vielen unterschiedlichen Strömungen zu einem Strom verschmelzen kann. Die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ist noch nicht groß genug, das eine Welle erzeugt würde.
Ist das Ausbleiben mächtiger Proteste in Russland ein Zeichen von Angst, eine spezielle Mentalität, eine reale Unterstützung des Systems, Neutralität der Intelligenz oder irgendetwas anderes?
Von jedem etwas. Sie zeigen die wahren Ursachen. Fügen Sie Ihrer Liste noch etwas hinzu.
Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Es entwickelte sich in den Sand. In ihre Einzelteile zerfallen und der horizontalen Verbindungen beraubt. Demoralisiert und Ausgeplündert. Natürlich unter dem Einfluss der Regierungsarbeit zur Desorganisation der Gesellschaft und ihrer Umwandlung in eine Biomasse.
Der Verlust von Autoritäten, die die Agenda formulieren können und bereit sind, für die Idee zu opfern, mit einigen Ausnahmen.
Nun bringt eine Welle unter den Jugendlichen Alexei Navalny hervor. Aber weitere Organisatoren von Protesten gibt es zur Zeit nicht. Zur Zeit!
Ich sage es noch einmal: Unsere Gesellschaft erweist sich als eine völlig andere, als die ukrainische. Natürlich spielt auch die imperiale Identität eine Rolle, die immer noch der Kern des Systems und ein Element des Selbstbewusstseins ist.
Bei den wenigen Veranstaltungen sind nicht nur viele Schüler, sondern sogar Schulkinder dabei, weshalb der Ausdruck „Proteste von Schülern“ auftauchte. Was bedeutet das?
Es gibt neuen Widerspruch. Es ist die Generation Putin, also Menschen die unter ihm aufgewachsen sind und weder Kommunismus, Jelzin oder Gorbatschow kennen.
Wir wissen nicht, wie zahlreich diese revolutionären jungen Menschen sind. Aber sie sind bereit, Navalny oder einer anderen Führungspersönlichkeit zu folgen, die ihnen Hoffnung gibt. Die Hoffnung auf was? Auf Gerechtigkeit – ein eine aussagekräftige Losung.
Und die jungen Menschen sind bereit sich zu opfern. Sie haben vor nichts mehr Angst, als älter zu werden. Für sie ist der Protest eine Arte Mode-Erscheinung.
Das sagt viel darüber, dass das Land nicht ganz ohne Hoffnung ist. Es hat noch Atem. Auch wenn es krampfhaft ist. Aber das Land lebt, das gibt Hoffnungen. Und er fängt an, die Brustwarzen zu bewegen.
Aber wir werden jetzt nicht die Möglichkeiten eines Sturmes übertreiben. Wer weiß, wie es wirklich anfangen wird.
Das Erbe, das Putin hinterlässt, ist ein verärgertes, verhärtetes Land.
Hat das russische politische System die Voraussetzungen für die Bildung einer wettbewerbsfähigen Opposition und die Entstehung eines charismatischen Führers?
Es gibt immer Voraussetzungen, wenn wir nicht in der Leichenhalle sind.
Das Fehlen von Kanälen, um den Willen von Millionen auszudrücken, ist eine Voraussetzung. Diese Millionen haben die Aufregung bereits gesehen. Das waren die 90-iger Jahre, auch wenn sie chaotisch waren, aber wir hatten eine Stimme.
Auf die Frage „Was würden Sie sich jetzt von Russland wünschen“ antworten, wählen nur 42% der russischen Befragten die „Großmacht, die von anderen Ländern respektiert und gefürchtet wird“, und 56% bevorzugen die Option „Land mit hohem Lebensstandard, wenn auch nicht eines der stärksten Länder der Welt“.
Dies legt nahe, dass sich die Menschen weiterentwickeln.
Aber was verhindert das Entstehen einer echten Opposition, die ihnen eine Alternative bietet und sie davon überzeugt, dass sie sie diesmal nicht verkaufen und nicht aufgeben wird? Nur der Druck der Behörden?
Macht ist eine Fähigkeit in der Versuchung. Gnadenlosen Unterdrückung. Aber sie ist primitiv und schlägt als Hammer die Nägel ein.
Es gibt noch einen weiteren Grund für die Schwäche der Opposition. Bei uns wurden alle neuen Ideologien und Schlüssel-Ideen diskreditiert. Die Kommunisten wurden unterdrückt, in dem die linke Idee diskreditiert wurde. Die Nationalisten sind mehrfach gefallen und wieder aufgestanden. Die Liberalen dienen der Macht.
Mit einem Wort, alle wichtigen politischen Strömungen sind zu Staub geworden.
Natürlich gibt es eine alte Opposition, die sich mit letzter Kraft wehrt wie auch die Menschenrechtsaktivisten. Aber die Sache ist, dass die Opposition zum Leben erwacht und den Antrieb bekommt, wenn es diesen Antrieb in der Gesellschaft gibt. Aber wenn die Gesellschaft schläft.
Aber offensichtlich wacht die Gesellschaft so ganz langsam auf. Natürlich brauchen wir eine neue Generation von Gegnern, die den Staffelstab übernehmen und die Dinge besser machen werden, als wir alten Abweichler.
Wir hatten unsere Chance. Wir haben sie nicht genutzt.
Aber die charismatischen Führer fürchte ich. Wir haben sie in Russland satt. Das Problem ist nicht die Führungspersönlichkeit, die jederzeit bereit ist, die Macht an sich zu reißen. Das Problem besteht in der Bildung einer kollektiven Kraft, die einer neuen charismatischen Persönlichkeit keine Chance lässt.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass alles ohne jegliche Organisation beginnt.
Im Jahr 2018 wurde Putin für eine zweite, besser gesagt für die vierte Wahlperiode wieder gewählt. Wir er nach Beendigung der Wahlperiode wieder versuchen, an der Macht zu bleiben? Wenn ja, worauf bereitet sich die Ukraine vor?
Ich denke, das Putin selber weiß, oder es spürt, das seine vorbei ist. Das ist seine letzte Wahlperiode.
Es ist aber möglich, dass er in einer anderen Art und Weise erhalten bleibt. Aber schlechter wie jetzt, kann es kaum noch werden.
Das Drama für in und das gesamte System besteht darin, das der Weg des friedlichen Machtwechsels in Russland blockiert ist. Es ist nicht nur die Tradition und die Angst jener, die an der Macht sind. Und mit Jelzins Verfassung.
Alle sprechen schon darüber, dass eine Epoche zu Ende geht, auch wenn Putin noch im Kreml sitzt. Die Frage ist nur, ob die Verantwortlichen ihren Abgang selbst bestimmen können.
Die neue Führungspersönlichkeit wird in jedem Fall nach einem Weg suchen, die Mach zu konsolidieren. Die einfachste Möglichkeit zur Konsolidierung besteht darin, alle Sünden und Probleme seines Vorgängers hinter sich zu lassen. In jedem Fall ist es eine russische Tradition.
Es ist unwichtig, ob sich Putin an die Macht klammern wird, oder nicht. Aber was wird er von dieser Macht noch übrig bleiben? Um so wichtiger ist das Vermächtnis, das er hinterlässt.
Das ist ein unglückliches und grausames Land. Eine verarmende und ihre Zukunft verlierende Bevölkerung. Elite, eingesperrt in einer Lepra-Kolonie. Die Armen und die Reichen können sich gegenseitig nicht ausstehen. Angst vor der Vergangenheit Das Fehlen friedlicher Wege der Veränderung. Parasiten, die alle Zweige der Macht geritten haben.
Es ist ein verstörendes, düsteres, sogar beängstigendes Bild.
Wir müssen entweder verrotten, vielleicht ist es für einige Leute ganz bequem, oder die Ställe reinigen. Das ist auch ein sehr dramatischer Prozess.
Darauf müssen wir uns alle vorbereiten. Hoffen wir, dass Russland diesmal seine Geschichte und Tradition täuscht. Und wir finden einen friedlichen Ausweg und halten uns nicht weiter am Rande des Abgrunds fest.
Das Interview ist in Russisch auf www.pravda.com.ua erschienen.
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