Präferenzverfälschungen
Timur Kuran: »Eine Atmosphäre der Unterdrückung führt zu Präferenzverfälschungen
unter den Meinungsführern«
Das Interview mit Timur Kuran führte Denis Volkov. Die russische Originalfassung finden Sie auf: https://imrussia.org.
Das Phänomen Wladimir Putin und seine hohe Zustimmungsrate (über 80 Prozent) wird häufig von Sozialwissenschaftlern diskutiert. Es hält sich das Gerücht, das diese Angaben nicht zutreffen und das die Meinungsforscher im Unrecht sind. Der Soziologe Denis Volkov vom Levada-Zentrum sprach mit Timur Kuran, einem prominenten Soziologen und Professor für Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften an der Duke University, über das Konzept der »Präferenzverfälschung«, die die hohe Zustimmung für Führer von autoritären Systemen erläutert.
Es gab eine Menge Kritik an den Meinungsumfragen, die die Zustimmung zum für Putin und sein System zeigen sollen. Glauben Sie, das sich die Meinungsforscher irren?
Meinungsforschern ist oft die Empfindlichkeit der befragten Personen nicht bewusst. Sogar unschuldig aussehende oder klingende Meinungsforscher bekommen keine ehrlichen Antworten. Man denke nur an die Wahlen in Moskau 2013, in Schottland 204 oder in Griechenland 2015. Auch Erdogan hatte bei den Wahlen 2015 in der Türkei eine beträchtliche Unterstützung. Die meisten Umfragen haben die deutliche Zustimmung für die Partei Erdogans unterschätzt. Nur das KONDA-Institut hatte sechs Wochen vor der Wahl die Verhältnisse richtig vorhergesagt.
Was für ein Erfolg für das KONDA-Institut? Erdogan hat viele Wahlen gewonnen und seine diktatorischen Vollmachten erweitert. Viele Türken haben den Eindruck, dass Erdogan nicht mehr aufzuhalten ist. Er hat wie Wladimir Putin in Russland alle Kräfte auf sich vereinigt. So haben viele Wähler Angst die Fragen eines Meinungsforschers ehrlich zu beantworten. Die Meinungsforscher des KONDA-Institutes haben den efragten erklärt, dass sie nicht für die Regierung arbeiten, keine Beziehungen zum Staat oder der AKP haben. So konnte man die wachsende Opposition gegen die AKP registrieren.
Wenn eine dominante Partei das Aufbegehren der Bevölkerung fürchtet, müssen Umfragen die Angst der Befragten überwinden, die die Präferenzverfälschungen verursachen. Wenn man die Abstimmungs-Neigung richtig erfassen möchte, muss man den Befragen zusichern, das die Angaben nicht gegen sie verwendet werden.
Sie erwähnen das Konzept der »Präferenzverfälschung« im Zusammenhang mit der Genauigkeit verschiedener Meinungsforscher. Was verstehen Sie darunter?
In autoritären Systemen, wie in Russland, ist es riskant Ansichten offen zum Ausdruck zu bringen, die der amtierenden Regierung widersprechen. Demzufolge tragen viele Menschen bei politisch sensiblen Themen zur Präferenzverfälschung bei. Insbesondere Regierungskritiker halten sich mit konkreten Äußerungen zurück. Das geht so weit, dass sie ihre Ansichten verleugnen, in der Hoffnung ihre Karriere voranbringen zu können und in Ruhe gelassen zu werden. Aber, was die Leute in der Öffentlichkeit sagen, ist nicht das, was sie glauben, denken und fühlen.
Wie funktioniert das in der Praxis?
Die repressive Atmosphäre führt zu Präferenzverfälschungen bei den Meinungsführern, wie namhafte Journalisten, Medienmanager und öffentlicher Intellektueller. Während öffentlicher Äußerungen zeigen sie deutlicher ihre Unterstützung für die Regierung als in privaten Gesprächen mit engen Freunden. Selbstzensur, Zensur und Anbiederung führen dazu, dass in den Massenmedien nur positive Fakten verwendet werden. Unerwünschte Informationen und kritische Meinungen dürfen in den Medien nicht veröffentlicht werden. Sie werden nur von wenigen Intellektuellen registriert. Im heutigen Russland haben nur die Menschen Zugang zu kritischen Ansichten, die Fremdsprachen beherrschen und ausländische Zeitungen lesen können, die Diskussionen in den sozialen Netzwerken in verschiedenen Sprachen verfolgen können.
Privilegierten Zugang zu ungefilterten Informationen haben vorwiegend nur die Eliten. Es stellt sich raus, dass dies keine Rolle spielt. Denn keiner der Vertreter dieser Elite wird es wagen, sich gegen die Führung oder die führende Gruppe aufzulehnen und riskieren, alles zu verlieren. Daher verfälscht die Elite ihre Präferenzen in sensiblen politischen Fragen, auch wenn sie die wahren Zusammenhänge kennen. Sie wissen, dass die Rhetorik des herrschenden Systems auf Lügen, Verdrehungen und Auslassungen basiert. Dennoch behaupten sie, dass sie die Ineffizienz des Systems und die Korruption nicht bemerken.
Was kann man über das normale Volk sagen? Verleugnen die normalen Bürger auch ihre Präferenzen?
Die öffentlichen Präferenzen der Menschen basieren oft auf ihren privaten Meinungen, die sie auch leicht zugänglichen und verständlichen Quellen gewinnen. Im Unterschied zum akademischen Publikum machen sich normale Menschen nicht die Mühe, die Informationen zu überprüfen oder zu hinterfragen. Wenn die Medien mit positiven Informationen überfüllt sind, neigen die Menschen dazu, das für selbstverständlich zu nehmen. Das ist entscheidend. Wenn die Medien Putin generell unterstützen, interpretieren sie die Ereignisse aus seiner Sicht und filtern ungünstige Informationen heraus. Der durchschnittliche Bürger Russlands wird so die Entscheidungen der Regierung und des Präsidenten unterstützen. So diktieren die Informationen, die einem Menschen zugänglich sind, seine Präferenzen. Daher gibt es keinen Zusammenhang zwischen Intellekt und Präferenz.
Außerdem hängen die öffentlichen Äußerungen der Menschen auch von möglichen Vorteilen oder Belohnungen ab. Wenn Menschen sich öffentlich gegen die Regierung stellen, können sie ihren Arbeitsplatz verlieren und weiteren Schikanen ausgesetzt werden. Also werden sie ihre Unzufriedenheit verbergen und so tun, als ob sie die Regierung unterstützen. So ist nicht verwunderlich, dass die russische Regierung so populär ist.
Wie groß ist die reale Unterstützung der Regierung in einem Land, in dem die wichtigsten Informationsquellen durch die Regierung kontrolliert werden?
Menschen ohne Zugang zu anderen Informationsquellen können die Situation nur aus der Perspektive der Regierung wahrnehmen. Diese Menschen müssen nicht unbedingt ihre Präferenzen verfälschen, ihre Unterstützung kann echt sein. Die Bevölkerung übernimmt die am häufigsten verbreitete Meinung, so wie es alle anderen im Umfeld auch machen. In repressiven System neigen die Menschen auch dazu, Probleme mit Verschwörungen und Machenschaften der Feinde zu erklären, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes. Sie glauben, dass die Feinde für alle Probleme verantwortlich sind.
Allerdings ist die Meinung der Mehrheit sehr oberflächlich. Sie beruht nicht auf eigenen Erfahrungen und Erkenntnissen. Da die allgemeine Meinung sehr oberflächlich ist, kann sie sich auch sehr schnell wieder ändern. Wenn das heutige Regime der Kritik ausgesetzt wird, wenn den Menschen alternativen angeboten werden, kann die Stimmung schnell umschlagen.
Eine echte Unterstützung bedeutet nicht, dass die Menschen grundlegend überzeugt sind. Der Übereigende Teil der Menschen, die Putin unterstützen, können einen gebildeten Beobachter nicht von der Wirtschaftspolitik des Kreml überzeugen. Wenn die Medien frei und unabhängig werden, könnten sich viele von der Unterstützung Putins distanzieren.
Das heißt, dass es zwei Mechanismen gibt, die öffentliche Meinung zu verändern. Die erste ist, die Eliten aufzuspalten, die einen kritischen Blick auf die Situation haben, diese aber verbergen. Die zweite Variante mit Hilfe der Öffentlichkeit, die mehr Zugang zu alternativen Informationsquellen haben. So?
So ungefähr. Die Veränderungen beginnen, wenn sich Kosten und Konsequenzen für die Eliten verringern, wenn sie ihre Meinung offen äußern. Wenn die Eliten, die zuvor das System unterstützt haben, ihre Meinung und Ansichten öffentlich aussprechen, wird das automatisch die öffentliche Meinung beeinflussen. Die Menschen werden dann mit unterschiedlichen Standpunkten konfrontiert. Wenn ein Teil der Eliten nicht die allgemeine Meinung vertritt, sondern ihren Protest zum Ausdruck bringt, werden diese Gedanken schnell von anderen aufgegriffen und weiter getragen. So beginnt die Lawine des Protestes zu wachsen.
Was kann diesen Prozess auslösen?
Ein möglicher Auslöser sind ökonomische Probleme, in dessen Verlauf die Menschen erkennen, dass sich ihre Situation langfristig nicht verbessern wird. Nehmen wir den Einfluss des fallenden Ölpreises. Wenn man die niedrigen Ölpreise als vorübergehendes Phänomen betrachtet, wird das nicht zum Umdenken der Eliten führen. Aber wenn den Eliten bewusst wird, das sich die Preise nicht ändern werden, wird die mancher die Situation nicht mehr hinnehmen. Ein Teil der Eliten könnte damit beginnen, sich gegen die Führung zu stellen, und Führung der Opposition übernehmen. Für diejenigen, die an einen Regimewechsel glauben, kann die frühzeitige Opposition einen Vorteil bedeuten.
Der Zusammenbruch des Regimes in der DDR im November 1989 bietet ein lehrreiches Beispiel. Im Sommer des Jahres 1989 versteht das gesamte ostdeutsche Politbüro, das das Regime bedroht ist und beginnt zu zerfallen. Einige Mitglieder des Politbüros haben das sinkende Schiff verlassen und traten offen gegen die Unterdrückung der Proteste auf. Sie haben sich schnell als sozial-demokratisch bezeichnet. Dieses Beispiel zeigt deutlich, das die politische Umgestaltung Russlands im direkten Umfeld Putins beginnen kann, genauer unter seinen Geschäftspartnern.
In Ihrem Buch: »Die private Wahrheit, öffentliche Lügen« beschreiben Sie, wie politische Bildung auch zur Veränderung der Präferenzen führt. Worum geht es dabei?
Hier beschreibe ich auch die beiden Mechanismen, über die wir gesprochen haben. Wie schon erwähnt, verfälschen zahlreiche Menschen ihre politischen Präferenzen. Aber wenn sich die öffentlichen Risiken deutlich verringern, beginnen die »versteckten Dissidenten« offen zu sprechen. Wir gehen davon aus, dass das auf einen externen Schock zurückzuführen ist. Wenn immer mehr »versteckte Dissidenten« aufhören zu lügen, desto geringer wird das Risiko für andere Vertreter dieser Gruppe. Die Zahl der Demonstranten reduziert die Risiken für die gesamte Gesellschaft. Mit anderen Worten, der Prozess schützt sich selbst.
Die Reihen der Opposition wachsen immer weiter, da immer mehr Menschen, Freunde, Kollegen mit den aktuellen Problemen konfrontiert werden. Menschen, die sich immer noch über die ineffizienten Zustände wundern, bekommen Zugang zu anderen Standpunkten. Allmählich lehnen sich die Menschen auf, die Zugang zu alternativen Informationen haben. Sie beginnen die Behörden für die Situation verantwortlich zu machen. Es entsteht eine Wechselwirkung zwischen der politischen Mobilisierung und dem politischen Bewusstsein.
Das heißt, dass die Veränderungen in der Elite beginnen? Oder mit anderen Worten, führt der Prozess zur Ablösung des Systems?
Das ist eines der möglichen, das wahrscheinlichste Szenario. Ein anderes Szenario haben wir in Tunesien 2011 gesehen. Die Eliten haben natürlich die Probleme unter dem repressiven Regime von Präsident Zine al-Abidine Ben Ali gesehen. Aber sie hatten Angst diese anzusprechen und offen zu kritisieren. Die Auslöser für die Massenproteste kamen nicht von den Eliten, sondern vom einfachen Volk. Das Volk erhob sich, nachdem sich der Straßenverkäufer Mohamed Bouazizi auf der Straße angezündet hatte, nachdem er sehr lange von staatlichen Stellen schikaniert wurde. Seine tödliche Selbstverbrennung hatte einen großen Teil der Tunesier stark getroffen, die ebenfalls täglichen Schikanen und Demütigungen durch die Behörden ausgesetzt sind. Die spontanen Demonstrationen im ganzen Land begannen, weil sich die einfachen Menschen mit dem Leiden von Mohamed Bouazizi identifizierten. Seine symbolische Selbstverbrennung beendete das Leiden der Menschen. Auch die Eliten begannen zu zerfallen. Ich wiederhole es noch einmal: Das Auseinanderfallen der Eliten, die Mobilisierung der Massen gegen das Regime sowie neue Erkenntnisse über das kriminelle Regime – das sind Tendenzen, die sich gegenseitig verstärken.
Wie kann man erkennen, dass in einer Gesellschaft ein Umdenken stattfindet?
Die Revolution in Tunesien und der Umsturz in der DDR zeigen, dass es sehr schwierig ist, den Beginn solcher Veränderungen vorauszusagen. Mohamed Bouazizi war nicht der Erste und auch nicht der letzte Araber, der sich auf den Straßen Tunesien verbrannt hat. Nur sein Tod hatte eine große Bedeutung. Viele Tunesier waren unzufrieden mit ihrem Leben. Aber sie kannten nicht den Umfang der allgemeinen Unzufriedenheit. Ihnen wurde bewusst, dass die Repressionen in ein derartiges Niveau erreichten, das man in Tunesien nicht mehr leben konnte. Im Verlaufe dieses Prozesses haben die Menschen die Situation überdacht und die Legitimität des herrschenden Systems und Überlebensfähigkeit in Frage gestellt.
Übereinstimmend mit unseren Umfragen beträgt die Unterstützung für Putin mehr als 80 %. Könnte sich die Zahl in naher Zukunft verändern?
Die Unterstützung eines repressiven Systems und seines Führers während einer schweren wirtschaftlichen Krise kann man mit zwei Faktoren erklären: mit ehrlicher Sympathie und der Verfälschung eigener Ansichten. Die offene und ehrliche Unterstützung ist oft eine Folge der staatlichen Medienkontrolle, oder dem Respekt vor der Führungspersönlichkeit. Die beiden Faktoren sind Gegenstand der empirischen Untersuchung. Ein Vergleich von Umfrageergebnissen, die durch zwei unterschiedliche Methoden gewonnen werden, bringt hier nähere Erkenntnisse. Die erste Umfrage wird durch ein regierungsnahes soziologisches Institut durchgeführt. Die zweite Befragung wird durch eine Organisation durchgeführt, die dem Regime nicht nahe steht und die Anonymität der Befragten gewährleistet. Die wirklichen Unterstützer des jeweiligen Regimes werden diese in beiden Fällen ausdrücken. Die »verborgenen Dissidenten« werden in der ersten Untersuchung das System unterstützen, währen sie in der zweiten Umfrage ihre waren Präferenzen angeben. Wenn beide Methoden ähnliche Ergebnisse liefern, können wir davon ausgehen, dass die beobachtete Unterstützung echt ist.
Ich wiederhole es noch einmal: Eine offene Zustimmung bedeutet noch lange nicht die ehrliche Unterstützung. Ein großer Teil der 80% der Bevölkerung, die Putin unterstützen, können einem gebildeten Zuhörer die russische Wirtschaftspolitik nicht erklären. Sobald die Medien kritischer berichten können, wird die Unterstützung für Putin schnell schwinden.